Nachtdienst – Florian Günther

Jedes Gedicht hat (s)eine Geschichte. Wenn man
sie nicht kennt, darf man spekulieren. Ein
Gedicht kann die Vorlage zu einem Roman sein, es
öffnet die Phantasie mit wenigen Worten, der
Zeilenumbruch wird zum Kapitel, das Satzende zur
Apokalypse. Je nach Vorstellungskraft. Doch
zuerst muss das Gedicht entstehen.

Florian Günther hat ein Gespür für die kleinen,
manchmal mikroskopischen, poetischen Elemente in
den Schmuddelecken des Alltags und entlockt ihnen
so die entscheidenden Sinnfragen.“ Schreibt ein
Rezensent.
Das Gespür zu haben ist eine Sache, es
lyrisch umzusetzen die andere. Florian Günther
kann beides. Es sind die Begegnungen auf der
Straße, im Lokal oder sonst wo, die ihm Stoff
liefern, lauter Sachen ohne große Bedeutung, also
Kleinigkeiten der Welt, wie der Tod oder das
Leben des Proletariats.
Ob er einem
Tresengespräch lauschte, ob ihn eine
Zeitungsnotiz inspirierte oder eine persönliche
Erfahrung, herausgekommen ist dieses Gedicht:

Nachtdienst
Sie stammte aus einem
kleinen bulgarischen Nest am
Schwarzen Meer,
und der alte Säufer würde
die nächsten Stunden nicht
überleben, deshalb flehte er sie an:

Ich brauch ne
Flasche, Frau Doktor, ich hab Angst;
nur
eine
Flasche;
is doch auch die letzte!

Sie zog sich einen Stuhl heran,
setzte sich zu ihm
ans Bett, und sie tranken
die Flasche gemeinsam, während sie
sich bis zum Morgengrauen
unterhielten.

Dann schloß sie
ihm die Augen, stellte den Stuhl
zurück an seinen Platz,
wankte aus dem Zimmer, ließ sich ein
Taxi rufen
und fuhr heim.

War der alte Säufer wirklich alt, oder wurde er
nur so genannt, weil man ihn nicht anders kannte?
Ein guter Säufer schafft selten die 60.
Vorausgesetzt, er trinkt intensiv und frönt auch
anderen Lastern. Aus welcher Gesellschaftsschicht
kam er? Es ist zu vermuten, dass es sich um einen
Sozialfall handelte. Die Elite hätte in ihren
letzten Stunden nach dem Pfarrer gerufen.
Zugleich sieht man das Familienverhältnis des
Säufers – er hatte keins. Wenn doch, waren es
Flaschen.

Frau Doktor dürfte tatsächlich ein Medizinstudium
hinter sich haben, aber bulgarische Ärzte werden
schlecht bezahlt, sogar schlechter als eine
Pflegekraft hierzulande, also schob sie fünf 12-
Stunden-Schichten am Stück pro Woche und schickte die Hälfte ihres Geldes nach Hause. Der Tod
begegnete ihr oft, genauso oft wie der Vertreter
des Beerdigungsinstituts, der gerne früh morgens
auftauchte und Provisionen verteilte, bevor der
Arzt die Visite machte und Totenscheine
ausstellte. Spekulativ bleibt die Frage, warum
sie eine ganze Nacht lang beim Säufer sitzen und
mit ihm trinken konnte?
Eine emotionale Bindung wäre denkbar. Vielleicht
sah er ihrem Ehemann ähnlich, der an einer
Methanolvergiftung gestorben war und sie in diese
Lage gebracht hatte? Lauter Vermutungen.

Sie schloss ihm die Augen, nahm das letzte
Kleingeld von der Konsole und rief ein Taxi.
Schicht im Schacht.


Edition luekk-noesens Drecksack

Foto oben: © Florian Günther