Walfischer und Polarforscher sagten, die Inuit böten dem Gast zuerst einen Tee an, und später ihre Frau. Der Kapitän sagt, dass diese Art der Begrüßung früher usus war, doch heute kosten Tee und Übernachtung Geld.
Ungefähr in der Mitte
Grönlands, an der Ostküste,
liegt die Siedlung mit der
seltsamen Verdopplung von
Vokalen und Konsonanten:
Ittoqqortoormiit, was man als
„der Ort, wo große Häuser
stehen” übersetzt, am Anfang des Scoresbysundes,
erst 1925 vom dänischen Polarforscher Ejnar
Mikkelsen gegründet, dessen Bronzebüste auf einem
Betonsockel steht, und gut 800
Kilometer von der nächsten
Ortschaft Kulusuk entfernt.
Tatsächlich sind die Häuser
eher klein, maximal
zweigeschossig und aus Holz –
rot, blau, gelb oder grün. Die
Wassertiefe am Pier reicht nicht aus, der Kapitän
lässt ankern, und ein Beiboot bringt uns an Land.
Ein älterer Typ empfängt uns,
leicht rausgeputzt, wegen dem
guten Eindruck, sein weißes
Haar ist lang, und er kümmert
sich um die Touristen. Zuerst
erfahren wir, wie viele
Menschen hier leben. Ca. 560.
Richtung Norden befindet sich der größte
Nationalpark der Welt, der Nordort-Grönland
Nationalpark. Jene seichte Einbuchtung des
Fjordkomplexes Scoresbysund, die uns nicht hat
ankern lassen, gehöre zum größten Fjord der Welt.
Der Typ hat die Superlative auf der Zunge. Dann
möchte ich wissen, ob Alkohol ein Problem sei.
Tungutaq, Jäger, stellvertretender Bürgermeister
und Fremdenführer, will jetzt nicht lächeln,
schon vor mir hätten Journalisten negativ über
das Trinkverhalten der Grönländer berichtet, aber
ich korrigiere: „Ist es ein Problem Alkohol zu
bekommen?”
„Heute nicht”, sagt er, „aber früher hatten wir
eine Art gesteuerte Prohibition. Jeder Einwohner
über 18 Jahre bekam Bezugsscheine. Einen Schein
pro Tag mit drei Punkten. Was den Gegenwert von
drei Bieren bedeutete.”
„Zum Betrinken definitiv zu wenig.”
„Deshalb wurden die Scheine gehandelt,
Nichttrinker verkauften ihre Punkte an Trinker,
so kam jeder auf seine Kosten”, sagt Tungutaq.
„Wie schön. Wann macht der Laden auf?”
„Um Drei.”
Ittoqqortoormiit ist kein
gottverlassenes Nest, denn seit
Leif Erikson hat sich das
Christentum in Grönland
etabliert, und die Häuser sind
frisch bepinselt und wirken
nett inmitten der hügeligen
Küste. Es gibt ein Krankenhaus, eine Schule, ein
Elektrizitätswerk, eine Sporthalle, eine Kirche
die erst von innen danach aussieht, und einen
Hubschrauberlandeplatz. Und ganz wenige Autos. Im
Sommer brettern Squads über das drei Kilometer
lange und schlechte Straßennetz, im Winter sind
es Hundeschlitten. Auf jeden Einwohner kommen
zwei Hunde. Der größte Arbeitgeber ist die
Kommune, zwei Dutzend professionelle Jäger
schießen Robben, Moschusochsen, Wale und
Eisbären, natürlich lizensiert, und wer sonst
noch Arbeit gefunden hat, den beschäftigt die
Handelsgesellschaft. Der Tourismus ist ein
Zubrot, deshalb erfahre ich keine offizielle
Arbeitslosenstatistik.
Wir werden durch den Ort
geführt, die Hauptstraße hoch
und runter, dann wissen wir
warum: Kaffee und Tee gefällig?
Oder Wal, Rentier, Vogel, Robbe
und Fisch? Oder Suaasat – eine
Suppe aus allem?
Unsere Gruppe teilt sich auf, pärchenweise wird
sie in ausgesuchte Häuser und zu gedeckten
Küchentischen gebracht, und zum Schluss stehen
Tungutaq und ich alleine auf der Straße, denn er
ist gesättigt, und ich habe eher Durst.
„Wie wär`s mit einem Kaffee?”, fragt er.
„Ist noch keine 15 Uhr?”
„Ich habe zwar das Recht die Zeit vorzudrehen,
aber der Schnapsladen gehört mir nicht, also
komm, der Kaffee wird dir guttun.”
Tungutaq wohnt gleich hinter
dem Verwaltungsgebäude. Sein rotes, mit grauen Schindeln bedecktes Holzhaus steht auf Stelzen.
Wegen der abschüssigen Lage zur Klippe. Sonst
würde es ja schief stehen. Drei Stufen führen zu
einer blauen Tür. Wer sich ein Blumenbeet und
einen Garten um das Haus vorstellt, der liegt
tatsächlich schief. Zwischen Steinen und Schotter
kann man nichts anbauen, nur ein paar Grashalme
geben dem Grau etwas Grün. Und weil sich auch die
Architektur gleicht, legt man wenigstens Wert auf
einen andersfarbigen Anstrich der Fassaden zu den
Nachbarhäusern – wobei rostrot dominiert. Im
Sommer ist ein Squad das effektivste
Fortbewegungsmittel, denn im Sommer haben die
Hunde frei, die sich aber durchaus nicht
langweilen, trotz Kette, ich werde stürmisch
begrüßt und bedächtig beschnüffelt. Seine Frau
ist keine Inuk, sondern eine zugereiste Dänin.
Ich denke nicht, dass Tungatuq sie mir nach dem
Kaffee anbieten wird. Außerdem serviert sie uns
Grönländischen Kaffee, mit Whisky, Kahlua und
Grand Marnier, oben drauf ein Häubchen
Schlagsahne.
„Macht fünf Euro”, sagt sie.
Wir sitzen in der Küche, das
Interieur wirkt europäisch, ein
bisschen bäuerlich, durchaus
modern, wie die gesamte
Einrichtung. Vom Wohnzimmer
schaut man zur Bucht und auf
die gegenüberliegenden Berge. Ein Graustufen
Blick. Mit Schnee bedeckt sähen sie besser aus.
Der Winter wird als Ärgernis gesehen, keine
Schiffe, wenig Touristen, er beginnt im Oktober
und endet Anfang Mai. Grob gesagt, denn vier
Fünftel der Insel kennen nichts anderes als
ewigen Schnee, bzw. ewiges Eis.
Der Fremdenverkehr ist eine willkommene
Abwechslung, besonders für die Kinder, die im
Winter depressiv werden und durchs Internet
surfen und Fernsehkanäle bezappen, während die
Erwachsenen ab 15 Uhr vor dem einzigen Laden
anstehen, um Bier zu kaufen. Sagt Tungatuq. Die
beiden leben alleine, sie haben keine Kinder und
ein relativ gutes Auskommen.
„Gerade der Winter ist den jungen Menschen eine
deprimierend lange Zeit”, sagt er nach dem ersten
Kaffee, „sie vermissen die Sonne, dann wissen sie
nichts mit sich anzufangen und flüchten in eine
virtuelle Welt, die ihnen Kommunikation bietet.
Ihre Körper produzieren zu wenig
Neurotransmitter, das macht sie anfällig für
Selbstmordgedanken.”
„Klingt destruktiv“, erwidere ich.
„Ja, dann sind alle Tage gleich kurz, aber
verschieden breit.“
Der Kaffee ist vorzüglich. Später stehen wir vor
dem Laden der Handelsgesellschaft.
„Gebratene Walhaut mit Speck”, schwärmt ein alter
Tourist, der so was ähnliches um die Hüften trägt
und deshalb Orte wie diesen aufsucht, weil er es
sich nicht leisten kann Zuhause zu bleiben. Ein
anderer zeigt sein gerade erstandenes Souvenir,
eine Haifischzähnenkette. Die Flasche Bier kostet
umgerechnet drei Euro. Für eine Flasche
schottischen Whisky legt man ca. 40 Euro hin.
„Bei den Preisen ist Alkohol tatsächlich ein
Problem”, sage ich zu Tungutaq.
„Ach, du solltest mal am Freitag hier sein, am
Zahltag, und spätestens Samstagabend kommt es zu
kleinen Auseinandersetzungen, und Sonntag gehen
manche Frauen mit blauen Augen und Blutergüssen
zur Kirche.”
„So schlimm?”
„Schlimmer, Gewalt in der Familie gehört zum
Alltag. Wegen der Einöde.”
Vor dem Laden
dösen zwei
Hunde. Die
Kinder wirken
fröhlich und
neugierig. Die
Touristen
machen Photos
und schauen zur Uhr. Im Kopf bereits das nächste
Event.