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Wind

„Wie geht es deinen Gedanken?”, fragt sie.
„Undefinierbar, wie der Kaffee”, antworte ich.
Der Kaffee ist wirklich nicht zu beschreiben, er ist so eine Pulvermischung aus alten Autoreifen, Koffeinextrakt und wasserlöslicher Betonfarbe. Wir sitzen in einem offenen Restaurant, nur eine Straßenbreite vom Strand und dem Meer entfernt. Der Wind wird von draußen in die Bucht gepresst wie durch einen Trichter, er fegt über den Strand und die Straße - zwar bricht er sich später an den Häuserfronten, aber hier findet er ungehindert Einlass.
Ich beuge mich runter und stippe die Asche der Zigarette ab. Sie fliegt mir sofort ins Gesicht. Warum wir jeden Tag hier sitzen und einen undefinierbaren Kaffee trinken, kann ich nicht sagen. Vermutlich aus reiner Gewohnheit. Einmal riss mir dieser heftige Wind einen Geldschein aus der Hand, als ich gerade bezahlen wollte. Er segelte hoch, vollzog zwei dämliche Schleifen, trudelte bis zur Mitte der Fahrbahn, dann fuhr ein noch dämlicheres Auto drüber. Es nahm ihn einfach mit.
„Ich denke oft an damals”, sage ich.
„Das solltest du nicht“, sagt Am.
„Ich weiß“, erwidere ich.

Sie weiß, dass ich fast jeden Tag an damals denke. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, alles hat gelitten und ist älter geworden. Nicht nur wir, auch die Einrichtung des Restaurants, das wir seit 20 Jahren kennen, und dessen Inhaber. Die Frau schaut öfter zu uns rüber, ihr Sohn starb bei einem bewaffneten Überfall im Süden. Ihr Mann hat sich längst damit abgefunden; sie werden das über zwei Generationen geführte Restaurant demnächst verkaufen. Jetzt, da es keine dritte Generation mehr gibt. Wie der Wind, so haben auch die Jahre Veränderung geschaffen. Die Straße entlang des Strandes ist belebter geworden, hektischer, man braucht ein geschultes Auge für eine kleine Lücke, um sie zu überqueren. Oder ein Blaulicht auf dem Kopf. Wir bleiben nie länger als 15 Minuten, genug Zeit, um den Kaffee in seinem Widerspruch ruhig zu genießen.
„Pass mit dem Geld auf”, sagt Am. Jeden Tag. Seit mir der Wind den großen Schein nahm. Beinahe wie damals, als ich sie kennenlernte, vor 20 Jahren, als ich ihr schon am ersten Tag das Portemonnaie gab und sie sagte: „Ich pass lieber mit dem Geld auf.”
Heute will sie nicht mehr für mich bezahlen, wie sieht das aus, jetzt, wo wir verheiratet sind, hatte sie gleich nach der Hochzeit gesagt. Heute begleicht sie die größeren Posten mit meiner Kreditkarte.

Gegen Nachmittag nimmt der Wind zu, wir gehen durch die schmalen Seitenstraßen zurück zum Haus, vorbei an den Geschäften, den kleinen Wäschereien, den alten Restaurants und Bars. Es sind immer noch die gleichen Fassaden, die gleichen windschiefen Reklameschilder, alles etwas verrostet und vergammelt, frische Farbtupfer sind selten. Sieht man genauer hin und betrachtet die Bewohner, erkennt man Erwachsene, die früher Kinder waren und nun selber welche haben, oder ganz neue Gesichter. Wer kann, zieht in die sechs Kilometer entfernte Stadt, wo man die Preise verdoppelt hat. Meine Frau und ich machen nicht mehr viel zusammen, nachmittags undefinierbaren Kaffee trinken, ja, und sonntags flanieren wir über die Promenade, setzen uns unter eine Stechpalme, aber eigentlich sind wir kontaktlos.

„Es ist wegen deinen Gedanken“, sagt sie, „ich will nicht, dass du so viel denkst.“
Deshalb lässt sie mich öfter allein. Sie bleibt ihrem eigenen Lebensrhythmus treu, sie besucht Verwandte, Bekannte und entfernte Nachbarn. Früher mochte ich diese Besuche, die Abwechslung, ich war gerne der Tradition des Landes verpflichtet und genoss die lärmende Gastfreundschaft. Wir hatten nur ein Kind, eine Tochter. Wir heirateten noch vor ihrer Geburt und machten Pläne: Sie sollte die internationale Schule besuchen, mindestens zweisprachig aufwachsen, und ich wollte sie möglichst früh andere Länder sehen lassen, besonders mein Heimatland. Dann starben Ams Eltern; wenn ich mich recht erinnere, vor fünf oder sechs Jahren. Kurz nacheinander. Den Tod unserer Tochter Wassana bekamen sie nicht mehr mit. Sie waren skeptisch und ein bisschen enttäuscht, als ich einheiratete, ein Farang, und nicht gerade vermögend. Es dauerte, bis sie mich akzeptierten, besuchten und einluden, hauptsächlich wegen Wassana.

Man kann unser Haus nicht gerade als feudal bezeichnen: drei Zimmer, offenes Bad, ein kleiner Garten. Morgens halte ich mich gerne im Garten auf, der verwildert und verlottert ausschaut, ganz wie ich selbst, und er war schon immer so, ich meine, ein bisschen verwildert, weil Wassana es mochte. Auch das Gerüst der alten Schaukel steht noch. Schlingpflanzen kriechen daran hoch, das Holz vermodert und wird langsam morsch. Manchmal sehe ich meine Tochter dort, in Gedanken, weil mein Kopf nicht mehr richtig mitspielt, und manchmal sitze ich auf der Schaukel, die jederzeit zusammenbrechen kann, und dann kommt Am und sagt, ich sei ein Dummkopf. Das Gerüst ist wirklich marode, in meinem Alter sollte ich nicht mehr schaukeln.
Wenn bloß der Wind nicht wäre, beim Kaffeetrinken im Restaurant, nur eine Straßenbreite vom Meer entfernt. Wassana mochte das Meer und den Wind, dauernd drängte sie mich zum Strand, und während ich faul im Sand hockte, schwamm sie zwei Runden um die Barke.
Am fragt jeden Tag: „Wie geht es deinen Gedanken?”
Eigentlich antworte ich täglich ein wenig anders, je nach Stimmung, doch hauptsächlich beschwere ich mich über den Kaffee, den wir seit vielen Jahren hier trinken. Am fragt ja nur, um überhaupt etwas zu sagen. Auch sie schaut rüber zum Meer und weiß, was damals passiert ist. Wer hatte Schuld? Der Wetterumschwung, also die Natur? Heute bin ich allein, jedenfalls fühle ich mich so.

Wir bewohnen dieses Reihenhaus seit 20 Jahren. Damals, nach dem Tod Wassanas, wollten wir aufs Land, weg vom Meer, weg von dieser stetigen Brise, die von draußen in die Bucht gedrückt wird und manchmal heftige, gefährliche Strömungen verursacht. Ich will nicht daran denken und tue es doch, ich sehe die Holzschaukel in unserem Garten und höre Wassana jauchzen, höher, mehr, schneller, und ich denke an die Wellen des Meeres an jenem Tag, die höher und kräftiger als üblich über den Strand fegten. Wegen dem Wind, diesem gottverfluchten Wind und der daraus entstehenden verdammten Strömung.
An den miserablen Kaffee habe ich mich längst gewöhnt.

Der kleine Knall

Reichen ein paar Streichhölzer, oder
brauchst du einen Schweißbrenner
und Flugbenzin,
um die Bombe deines
Lebens zu zünden?
Willst du alles niederbrennen,
abfackeln und in die Luft jagen?
Hörst du schon die Explosionen?
Dann nimm ein richtiges
Werkzeug, für eine wirkliche Zerstörung.

Egal was du tust, aber fange an. Warten
ist das größte Manko, denn überall fliegt
die Asche der Toten durch die Luft, staubig,
trocken und vom Winde verweht.
Wenn du wartest, verblasst dein Drang
nach Freiheit allmählich, zusammen
mit den Erinnerungen an alte Zeiten,
so
wie dein Wellensittich
die offene Käfigtür ignoriert.

Fahrende Züge

Du hast damals gesagt,
es sei nicht schwer
wegzugehen,
ohne Nachricht, ohne Wort,
ohne eine Spur, einfach fort.

Ich war jung und
wusste nichts um den Fahrplan,
den Währungskurs fremder Länder.
Züge,
hast du damals gesagt,
rollen von Januar bis Dezember.

Durch mein kleines Dorf
fahren keine Züge, dabei
ist es doch so simpel:
entweder bleiben oder verlassen,
aber keine Chance verpassen.

Heute denke ich an dich,
an Berlin und New York,
(wenn ich dort bin)
an Grenzen, Mauern und Felder,
Straßen, Brücken und Wälder.

Vielleicht könnte es mir genügen,
doch ohne dich
träume ich
von fahrenden Zügen.

Zuversicht

Braucht Zuversicht Nahrung?
Ja, alles braucht Nahrung in Form von
Energie - geistig und körperlich. Wissenschaftlich
ist es in der Thermodynamik begründet,
spirituell im Glauben. Um ein positives
Gefühl aufzubauen, muss
die negative Empfindung umgewandelt werden.
Das passiert im Kopf (chemisch-elektrisch).
Der Atheist füllt mühsam oder leicht
einen Ofen, der ihm eine warme Stube beschert.
Der Glaubende regt Transmitter an,
und schon ist ihm wohlig.
Beide verfahren nach dem gleichen System:
Zu- und Abfuhr von Wärme, also Energie.
Und da von nichts nichts kommt,
ist eine Zuversicht ohne Nahrung unmöglich.

Feierabend

Morgens, wenn ich in die Straßenbahn steige,
und an manchen Morgen ist es
besonders schlimm,
sehne ich mich nach dem Feierabend,
der kalten Flasche Bier,
nach der Einsamkeit, und wenn ich
leicht betrunken auf der Couch
einschlafe und träume,
ich sei pensioniert,
vergesse ich beinahe,
nach all dem Bier und der Ruhe,
dass dann mein Leben
fast vorbei ist.

(Aus: Bewegungen im Untergrund)

Daniel Dubbe: Lyrik

XIX
Was ich heute sah

Ich bin 1 Anarchist
& hoffte deshalb natürlich
inständig dass viele,
viele unvernünftige
Menschen die Verordnungen
unserer Regierung
mißachten würden.

Aber alles dunkel
auf der Reeperbahn.
Nur dunkle Klein-Dealer
an dunklen Ecken
& in Hauseingängen.
Sonst keine Lebenszeichen,
alle Geister erlahmt
– bis auf das arbeitslose
alte Liebesmädchen
das McDonald’s Happy Meal
ausm Mülleimer fischte.

20.03.2020

Alte Momente

Ihr Blick war teuflisch kalt, sie konnte das
Licht
mit ihren grünen Eisaugen töten,
er drang ins Innere wie eine Tunnelbohrmaschine.
Man spürte ihn sofort, diesen Blick,
er hinterließ eine Form der Geringschätzung
bis hin zur Verachtung,
für weniger als eine halbe Sekunde, um wieder den Modus zu wechseln und
mit einem Lächeln
Wärme zu erzeugen.
Manchmal guckte sie mich an,
sie dachte, ich würde schlafen, und beugte sich
rüber.
Selbst wenn ich schlief, wurde ich wach und
öffnete meine Augen. Erst dann beendete
sie das Gemetzel ihres Blickes,
der mich traf,
zerstückelte und neu zusammensetzte.

Hartmut, der junge Held

Die Kampfansage

Nachdem der edle Ritter Hartmut mit einem weißen
Elefanten und einer kleinen Gefolgschaft die
Alpen überquert hatte, schaute er zurück. Aber
das, was vor ihm lag, war viel gefährlicher.
Spätestens im Aostatal würde er auf die Römer
treffen. Seine Kameraden waren geschwächt und
hungrig, er musste sie unbedingt bei Laune
halten, für den großen Kampf, also öffnete er die
kleinen Fäßchen mit Rum und schenkte jedem
kräftig ein. Und wie das so ist, zum
Sonnenuntergang lagen alle betrunken im Gras und
schnarchten. Noch wusste niemand, was am nächsten
Morgen passieren würde.

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