Du hast damals gesagt, es sei nicht schwer wegzugehen, ohne Nachricht, ohne Wort, ohne eine Spur, einfach fort. Ich war jung und wusste nichts um den Fahrplan, den Währungskurs fremder Länder. Züge, hast du damals gesagt, rollen von Januar bis Dezember. Durch mein kleines Dorf fahren keine Züge, dabei ist es doch so simpel: entweder bleiben oder verlassen, aber keine Chance verpassen. Heute denke ich an dich, an Berlin und New York, (wenn ich dort bin) an Grenzen, Mauern und Felder, Straßen, Brücken und Wälder. Vielleicht könnte es mir genügen, doch ohne dich träume ich von fahrenden Zügen.
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Zuversicht
Braucht Zuversicht Nahrung? Ja, alles braucht Nahrung in Form von Energie - geistig und körperlich. Wissenschaftlich ist es in der Thermodynamik begründet, spirituell im Glauben. Um ein positives Gefühl aufzubauen, muss die negative Empfindung umgewandelt werden. Das passiert im Kopf (chemisch-elektrisch). Der Atheist füllt mühsam oder leicht einen Ofen, der ihm eine warme Stube beschert. Der Glaubende regt Transmitter an, und schon ist ihm wohlig. Beide verfahren nach dem gleichen System: Zu- und Abfuhr von Wärme, also Energie. Und da von nichts nichts kommt, ist eine Zuversicht ohne Nahrung unmöglich.
Feierabend
Morgens, wenn ich in die Straßenbahn steige, und an manchen Morgen ist es besonders schlimm, sehne ich mich nach dem Feierabend, der kalten Flasche Bier, nach der Einsamkeit, und wenn ich leicht betrunken auf der Couch einschlafe und träume, ich sei pensioniert, vergesse ich beinahe, nach all dem Bier und der Ruhe, dass dann mein Leben fast vorbei ist. (Aus: Bewegungen im Untergrund)
Adebar und Adele
Wie jedes Jahr wurde Adebar am Ende seines Urlaubs melancholisch. Er hatte mehrere Monate in Südafrika verbracht, viel getrunken, gespielt und lange geschlafen – aber nie alleine. Es sei anzumerken, dass Adebar zur Gattung der Schreitvögel gehört, er ist ein Weißstorch im besten Alter.Adebar und Adele weiterlesen
Zwischenbilanz
Ich kann nicht anders, ich bin allem verfallen
was mich betört. Das ist allerdings in weiter
Sicht gemeint, denn die Betörung greift um sich,
sie fasst eine Menge, wie zum Beispiel
Glück/Zufall, die Umstände von Zeit und Ort, die
familiären Verhältnisse, vielleicht die Gene. Wie
es sich für alte Männer gehört, ziehe ich eine
Zwischenbilanz:
Daniel Dubbe: Lyrik
XIX
Was ich heute sah
Ich bin 1 Anarchist
& hoffte deshalb natürlich
inständig dass viele,
viele unvernünftige
Menschen die Verordnungen
unserer Regierung
mißachten würden.
Aber alles dunkel
auf der Reeperbahn.
Nur dunkle Klein-Dealer
an dunklen Ecken
& in Hauseingängen.
Sonst keine Lebenszeichen,
alle Geister erlahmt
– bis auf das arbeitslose
alte Liebesmädchen
das McDonald’s Happy Meal
ausm Mülleimer fischte.
20.03.2020
Alte Momente
Ihr Blick war teuflisch kalt, sie konnte das
Licht mit ihren grünen Eisaugen töten,
er drang ins Innere wie eine Tunnelbohrmaschine.
Man spürte ihn sofort, diesen Blick,
er hinterließ eine Form der Geringschätzung
bis hin zur Verachtung,
für weniger als eine halbe Sekunde, um wieder den Modus zu wechseln und
mit einem Lächeln Wärme zu erzeugen.
Manchmal guckte sie mich an,
sie dachte, ich würde schlafen, und beugte sich
rüber.
Selbst wenn ich schlief, wurde ich wach und
öffnete meine Augen. Erst dann beendete
sie das Gemetzel ihres Blickes,
der mich traf,
zerstückelte und neu zusammensetzte.
Hartmut, der junge Held
Die Kampfansage
Nachdem der edle Ritter Hartmut mit einem weißen
Elefanten und einer kleinen Gefolgschaft die
Alpen überquert hatte, schaute er zurück. Aber
das, was vor ihm lag, war viel gefährlicher.
Spätestens im Aostatal würde er auf die Römer
treffen. Seine Kameraden waren geschwächt und
hungrig, er musste sie unbedingt bei Laune
halten, für den großen Kampf, also öffnete er die
kleinen Fäßchen mit Rum und schenkte jedem
kräftig ein. Und wie das so ist, zum
Sonnenuntergang lagen alle betrunken im Gras und
schnarchten. Noch wusste niemand, was am nächsten
Morgen passieren würde.
Freiheit
Freiheit ist nur ein anderes Wort für Anarchie,
ein Synonym dafür, dass man nichts
zu verlieren hat, bzw. nichts besitzt,
frei sein ist eine Lüge,
süß und prickelnd wie billiger Schaumwein
zum Frühstück, gepanscht aus un- und überreifen
Trauben, versetzt mit Kohlensäure und abgefüllt
in Trier, und falls deine Frau damit
einverstanden
ist, dass du billigen Wein trinkst, schön,
aber wenn sie etwas dagegen hat, wird sie
sagen: Komm schon, sei frei, bleib weg von mir,
die Welt hat viele Länder und noch mehr Orte.
Das hörst du dir ein paar Tage an und bist
ein bisschen asozial, ein bisschen höflich und
bleibst auf Distanz. Vielleicht wird sie durch
einen inneren Zwang dazu genötigt mitzutrinken,
bis sie irgendwann
die Klobrille vollkotzt und nach jemandem
Ausschau hält, der Spitzenweine serviert.
Wenn die Frau weg ist, steht dir alles Mögliche offen,
zum Beispiel auf Wodka umzusteigen,
abstinent oder katholisch zu werden.
Nimm dir die Freiheit, obwohl sie nur ein
Wimpernschlag ist, eine
chemische Reaktion im Großhirn, und letztendlich
nicht mehr bedeutet – schon gar nicht weniger –
als der nächste Zwang, dem man nachgibt.
Sie
In der Erinnerung lacht sie mich noch
an, eher versteckt und verstohlen,
und manchmal schlägt sie
mir urplötzlich ins Gesicht,
rammt mir ein Messer in den Rücken
und hält das Gedächtnis wach,
aber ich bin längst zu alt,
um den vergangenen Schmerz zu spüren.
Manchmal küsst sie mich für eine
sehr kurze Zeit,
wie ein warmer Regen oder ein kaltes
Bier im Sommer, wie ein Reflex,
doch der Winter steht bevor
und sie lässt sich immer seltener blicken,
Die Liebe,
wenn der Schnee pfeifend über
die frischen Gräber peitscht.