Die deutsche Mittelschicht im Sinkflug: Hartmuth Malornys Erzählung »Pi Erntedankfest« Von André Dahlmeyer
Das Leben auf dem Dorf oder im Vorort ist nicht jedermanns Sache. Hartmuth Malorny macht das in seiner Erzählung »Pi Erntedankfest« sehr anschaulich. Zu Beginn dieser Ode an den Pragmatismus wollen eine Frau und ein Mann, die sich nie zuvor begegnet sind, ein Grundstück kaufen. Aus unterschiedlichen Gründen mit unterschiedlich gefüllten Brieftaschen. Das Areal liegt an einer Industriebrache. Eine abbruchreife Villa steht drauf, für die sich niemand interessiert. Genau wie für dieses ehemalige Arbeiterschlafdorf. Solche Gegenden, in denen für fast nichts mehr Geld da ist, gibt es in Deutschland mit seinen mehr als eine Million Millionären nicht einmal selten. Malorny hat seine Geschichte mutmaßlich irgendwo in seiner Heimat angesiedelt, also in der Nähe von Wuppertal, Genaueres erfährt man nicht. Die örtliche Färberei hat geschlossen, lange schon, weshalb das Kaff in den Haushaltsgremien keine Rolle mehr spielt. Wer noch Arbeit hat, ist Pendler. Der Rest siecht dahin, gesellschaftlich mehr oder weniger scharf ausgegrenzt. Viele sind schlicht »zu alt« für den Arbeitsmarkt. Wie schweinisch dieses Deutschland seit geraumer Zeit mit seinen (Früh-)Rentnern umgeht, wäre mal was fürs Fernsehen mit seinem berüchtigten Bildungsauftrag. Die Frau und der Mann, die einander zuvor nicht begegnet sind, wollen sich den Viertelhektar mit Villa nicht durch die Lappen gehen lassen, legen also zusammen und unterschreiben den Kaufvertrag. Auch sie sind mit Mitte 50 nicht mehr die jüngsten. Irgendein kleines Erbe ermöglicht den Kauf des vergleichsweise preiswerten Grundstücks. Die beiden sind sogenannte Fachjournalisten. Der namenlose Ich-Erzähler schreibt für Wissenschaftsressorts gossenphilosophische Pseudoartikel, hin und wieder fliegt er auf. Seine Miteigentümerin Lusia wiederum macht in esoterischen »Grenzwissenschaften« und verdient mit viel weniger Aufwand deutlich mehr Geld. Bei ihm sind es für 10.000 Anschläge, also etwa zweieinhalb Seiten, satte 650 Euro. Trotzdem jammert er, weil er den Rand nie vollbekommt. Sein »Ich mag die jungen Redakteure, ein wenig Bauchpinseln macht sie anfällig für neue Ideen, dann wagen sie es, mich zu beschäftigen« klingt ein bisschen westernhagenmäßig. Mit dem Kauf des Grundstücks sind die beiden ad hoc liiert. Mit der Paarbildung hält sich Malorny nicht auf. Wenn ich jemals einen Roman schreiben sollte, sähe ich auch keinen Grund, das zu tun. Wo sie nun also schon mal zusammen darben, widmen sich die beiden der abenteuerlichen Herstellung von Likören und Bränden und dem semiprofessionellen Anbau von Hanf, vielleicht um der Sonne ein Denkmal zu setzen. »Grün ist die Hoffnung«, hieß es schon bei T. C. Boyle. Dabei denkt der Held Malornys gar nicht erst an den schnöden Mammon. Tauschwirtschaft steht auf der Tagesordnung und ist auch dringend angesagt, schließlich ist man nur »zugezogen«. »Wehret den Anfängen« bedeutet in der deutschen Provinz noch immer »Wehret dem Denunziantentum«. Zum kleinen Glück winkt eine Ortsvorsteherin die Destillate und das Marihuana der »Freiberufler und Kleinversorger« durch, schließlich stehen Wahlen an. Rasch ist das halbe Dorf drauf. Man trifft sich entweder in der einzigen Pinte oder auf der Terrasse des namenlosen Hanfbauern. Oder beim »Erntedankfest«. Da sitzt der Held das ganze Buch über und baldowert die Dinge aus. Ein wenig erhöht, um den Feind rechtzeitig zu erkennen. Einerseits geht er komplett technokratisch vor, andererseits durchaus mit Mitgefühl. Malornys Figuren sind oft blutleer. Doch schafft er es wie kaum ein zweiter, Leute ohne besondere Eigenschaften irgendwie interessant darzustellen, weil sein Schreibstil ein definitiv sehr hohes Niveau erreicht hat. »Pi Erntedankfest« zeigt die absinkende Mittelschicht im Überlebenskampf. Ein Elektriker dreht frei, ein Postbote ist nicht ganz koscher, es gibt auch ein weibliches Missbrauchsopfer. Lusia zieht eine Art soziologisches Fazit: »Das Dorf ist suizidal.«