Der Rezensent und sein Rezipient (Leser, Zuhörer,
Zuschauer) leben in einer Beziehung, meist
einseitig. Die Hymne auf ein Buch ist wie eine
5-Sterne-Bewertung, doch die namhaften
Feuilletons sind fest in der Hand der
Buchkonzerne. Neben den wenigen hauptberuflichen
Journalisten arbeiten viele freiberufliche
Literaturkritiker – im vorauseilenden
Opportunismus – die Rezensionsexemplare der
großen Verlage ab. Natürlich lesen sie nur rein,
und wenn die Zeit drängt, kopieren sie den
Pressetext.
Deutschlands wohl berühmtester Buchbesprecher war
Marcel Reich-Ranicki: was am Sonntagabend im
Literarischen Quartett vorgestellt wurde, fand
man am Montag unter den Top Ten der SPIEGEL
Liste. Selbst ein Verriss steigerte die Auflage.
Ohne Zweifel funktionierte die Vetternwirtschaft
der Mediengesellschaft. Damals, so unglaublich es
klingt, gehörte das Fernsehen den Öffentlich
Rechtlichen-Sendern, sie hatten das Monopol der
Meinungsmache. Reich-Ranicki, dieser Jude mit
Intellekt, Rhetorik, Fachwissen und einer
komische Aussprache, gelangte auf den Olymp der
Weltliteraturkritiker, auch, weil er „authentisch
rüberkam“ – ein Slogan, den man heute nur mit
Populismus oder Dummheit bedient, sonst ist man
nicht authentisch. Aber Reich-Ranicki stellte
sich den Kritiken seiner Kritiker, „Mein Leben“,
DVA, 1999, gelangte schon vor Druck auf Platz 1
der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Thomas Freitag: Reich-Ranicki
Wie finden Sie mein neues
Buch, ist es nicht genial
geschrieben? Stimmt, es ist
nicht genial geschrieben.
Kritik als Kunst der
Beurteilung kann positiv oder
negativ ausfallen, sie kann
hätscheln oder rügen, im
besten Fall zeigt sie die
Schwachpunkte eines Werkes
und lobt das Gelungene. Das
Empfinden einer Kritik ist,
genauso wie die Äußerung,
absolut subjektiv, und die Reaktion darauf sehr
menschlich. Aus Ironie wird Sarkasmus, und wer es
derber möchte, bedient sich der Beleidigung.
Früher war der Ton anders, nicht besser oder
schlechter, aber anders, und im 18. Jahrhundert
forderte Goethe: „ … schlagt ihn tot, den Hund!“
Gemeint ist ein Zeitgenosse, den er in einem
Gedicht verewigte, ein jemand, den er bewirten
ließ, und der sich hinterrücks übers Essen
beschwert hatte: „Die Supp hätt können gewürzter
sein/ Der Braten brauner, firner der Wein.“ Zu
allem Überfluss war der Kritiker ein Rezensent.
Damit konnte Goethe gar nicht umgehen.
Eugen Roth, ebenfalls Dichter
und Lyriker, setzte seine
Verse mit Scherz, Satire und
Ironie in die Sprache des
angehenden 20. Jahrhunderts,
er gehörte zu den
Wegbereitern der lyrischen
Humoreske. Der Gedichtband
„Ein Mensch“ (1935) machte
ihn beinahe über Nacht zum
Shootingstar. 450 000
verkaufte Exemplare machten
ihn zum „Rezensionssubjekt“. Während des
Nationalsozialismus` oblag die Kritik
ausschließlich dem NS Regime, gleichwohl ärgerte
sich Roth genauso wie Goethe, doch aus anderen
Gründen. Wollte man mit Gedichten das System
kritisieren, musste man sich den Regeln beugen.
Er formulierte sich genehmer: „Ein Mensch hat
Bücher wo besprochen/ Und liest sie nun im Lauf
der Wochen/ Er freut sich wie ein kleines Kind,/
Wenn sie ein bißchen auch so sind.“
Karl August von Witzleben hatte in der ersten
Hälfte seines Lebens mit Literatur nichts am Hut.
1786 ging er zur preußischen Armee, wechselte
mehrfach den Arbeitgeber sowie die Frauen, und
widmete sich nach den Kriegen der Landwirtschaft.
Ab 1821 verfasste er Dramen, Romane, Lustspiele –
und 36 Bände unter dem Pseudonym Tromlitz. Man
sollte meinen, dass ihn der erst späte Ruhm vor
Kritik gefeit hat, aber das Thema scheint ihn so
berührt zu haben, dass er dem Rezensent eine
gleichnamige Novelle widmete: „Ich hab dich so
oft gewarnt, den gefährlichen Weg der
Schriftstellerei zu betreten, es ist eine Klippe
… überdies begibst du dich in die Hände der
Rezensenten.“
Der kommerzielle Buchmarkt ist überschaubar, die
Verlagsgiganten halten sich ein paar Dutzend
Autoren/Innen, sie werden gefüttert, gepflegt und
werbewirksam vermarktet. Also artgerecht.
Populistische Meinungen gehören zum Geschäft,
solange sie den Verkauf fördern. Social Media hat
das Geschäft – seit Goethe – grundlegend
verändert. Buchdruck und Internet, zwei radikale
Neuerungen, die aber nur zwei alte Bekannte
bedienen: Kommunikation und Neugier. Und was
heute usus ist, erkannte schon Lessing: „Der
Rezensent braucht nicht besser machen zu können,
was er tadelt.“