Das Blatt ist weiß

Fügt man Farbe
hinzu, wird es bunt.
Dann nennt man es
ein Bild. Der Text
hingegen entsteht
aus sinnvoll
zusammengesetzten
Buchstaben, die
wiederum Wörter
einer Sprache
formen. Ob Bild oder
Buch, Hauptsache,
man denkt etwas.

Ein weißes Blatt hat keine dauerhafte
Berechtigung, gleich nach der Herstellung landet
es auf Schreibtischen und in Druckmaschinen –
später im Papierkorb. Bekritzelt, skizziert,
bedruckt. Manche Exemplare werden geordnet und
getackert, andere schiebt man durch den Reißwolf.
Das Blatt gewinnt oder verliert an Bedeutung, je
nach Informationsgehalt.
Die berühmte leere Seite des Schreibers ist,
neben dem Schaffen, auch ein Akt des Zerstörens,
wenn er den getauchten Federkiel ansetzt. Alsdann
ist es vorbei mit der Jungfräulichkeit. Die
digitale Variante des Manuskripts umfasst einen
Binärcode und verfolgt den gleichen Zweck. Und
wie steht es mit den Informationen, außer
Buchstaben, Nullen und Einsen? Mal gut, mal
schlecht. Manche Seiten hätten man lieber leer
gelassen – wie beim Klopapier.

Eine weiße Oberfläche, das große Nichts, und ohne
Vorstellung wird es so bleiben. Während der Autor
seine Phantasie in Wörter kleidet, muss der Leser
diese Phantasie entschlüsseln. So kann es
passieren, das beide aneinander vorbei denken. Um
das zu vermeiden, wurde der Comic erfunden. Aber
nicht jeder Schriftsteller ist ein Maler. Also
bleibt der Kreativität nur das Bild im Kopf, um
die leere Seite zu füllen. Das unbeschriebene
Blatt als Synonym für etwas, das Albtraum oder
Antrieb sein kann, die Überwindung zu den ersten
Buchstaben, wie die Genugtuung, ihnen einen Sinn
gegeben zu haben. Nur die letzte Frage kann der
Autor vor dem Prozess nicht beantworten: Wer wird
mich lesen?